Wilhelmine Cruys, gen. Käthe Brand, Kosmetik-Fabrikantin

Die Frauen in Ravensbrück haben sie geliebt. Sie sammelten Geld für Wilhelmine Cruys, damit sie früher frei kam, durch Bestechung von Polizeirat Rotter mit Tabak.

Passfoto Wilhelmine Cruys

Wilhelmine Cruys: Passfoto in der Gewerbekarte der Industrie-und Handelskammer Berlin, ausgestellt am 03.04.1941 Quelle: LABO Berlin, BEG-Akte Reg.-Nr.5016

Partnerschaft mit dem Rechtsanwalt Ernst Rothschild

Wilhelmine Cruys wurde am 11.November 1887 in Rendsburg/Schleswig-Holstein in der Familie eines Töpfers geboren, wuchs aber in Hamburg auf. Nach der Volksschule macht sie eine Lehre als Putzmacherin (Modistin), tut sich aber auch schon in der Kosmetik-Branche um. 1914 geht sie mit ihrer siebenjährigen Tochter Käthe nach Berlin, die bei ihrer Schwester Rosa Gotthelf, geb. Cruys, aufwächst. Wilhelmine schlägt sich mit verschiedenen Jobs als Näherin und Plätterin durch, bis sie 1916 den Rechtsanwalt Ernst Rothschild (geb. 27.09.1883 in Berlin) kennenlernt. Er ermöglicht ihr den Besuch der Handelsschule. Sie wird seine Mitarbeiterin, und es entsteht eine langjährige Freundschaft und Partnerschaft, die auch in der Zeit der Verfolgung durch die Nationalsozialisten von Bestand ist.

1933 verlieren Wilhelmine Cruys und Ernst Rothschild ihre Existenzgrundlage. Als Jude wird Ernst Rothschild die Zulassung als Notar und als Rechtsanwalt entzogen. Er wird sogar entmündigt, so dass Wilhelmine Cruys beim gemeinsamen Umzug am 01.11.1933 von der Martin-Luther-Straße 95 in die Motzstraße 79 (ab 1935 und bis heute Motzstraße 5) den Mietvertrag unterschreibt. Aber auch sie hat nun keine Arbeit mehr. In den späteren Strafverfahren 1938/39 gibt sie als Beruf "Zimmervermieterin" der großen 3-Zimmer-Wohnung im Gartenhaus, II. Stock, mit einem monatlichen Verdienst von 40 bis 50 Reichsmark an. Rothschild verdient ein paar Mark durch Aushilfe. Andere Lösungen müssen gefunden werden.

Liebesbeziehung zu Käthe von Bassenheim

1933 lernt Wilhelmine die quirlige Käthe von Bassenheim kennen und lieben. Sie ist fünf Jahre jünger und voller Ideen, wie Frauen in dieser Zeit Geld verdienen können, zumal im Szenebezirk Schöneberg, in dem trotz der Nazis immer noch alles möglich scheint.

Käthe Gräfin von Waldbott Bassenheim, gesch. Zmiedzinka, geb. Hahn, wurde am 08.01.1892 in Berlin-Tiergarten als Tochter des jüdischen Zahnarztes Paul Hahn geboren. Die Mutter starb früh und Käthe wuchs in Erziehungsanstalten auf. Sie war ein energiegeladenes widerspenstiges Mädchen, das viele Kontakte suchte und stets in Konflikt mit den damaligen Vorstellungen von Mädchenerziehung geriet. Ihr Vater ließ sie 1923 entmündigen. Dennoch gelang ihr eine Ausbildung als Kunstfotografin im Lettehaus. Die beiden Ehen stürzten sie völlig ins Unglück. Sie steckte sich mit Lues an, griff zum Opium, wurde mehrfach zwangsinterniert. Trotzdem schaffte sie es immer wieder, auf eigenen Beinen zu stehen.

1934 zieht Käthe von Bassenheim zu Wilhelmine Cruys in die Motzstraße. Sie haben eine intensive Liebesbeziehung bis zu ihrer Festnahme im November 1938, nur unterbrochen vom Opium-Entzug der Bassenheim in Wittenau 1935/36.

Motzstraße 5 in Berlin-Schöneberg

Motzstraße 5 in Berlin-Schöneberg, 2016, Gartenhaus. Im II. Stock wohnte Wilhelmine Cruys ab 1933 mit Ernst Rothschild und ab 1934 auch mit Käthe von Bassenheim. 1940 eröffnete sie hier ihre Kosmetik-Firma. Foto privat

Liebesbeziehung zu Emmy Richter

In dieser Zeit erlebt die Cruys heiße Tage und Nächte mit Emmy Richter, geb. 18.11.1895 in Hamburg, die sie schon von früher kannte.

Emmy Richter war die Tochter eines Hamburger Schiffsreeders. Sie besuchte die Höhere Töchterschule in Hamburg und ein Pensionat in Lausanne. Danach war sie bis 1923 als Choristin und als Schaupielerin tätig. Sie kaufte eine Film-Firma, mit der sie pleite ging. Dadurch geriet ihr Leben völlig ins Wanken. Sie hatte mehrere Strafverfahren wegen Urkundenfälschung, Betrug und Unterschlagung und wurde zu mehr als einem Jahr Zuchthaus und zu Ehrverlust verurteilt. Danach bekam sie keinerlei Jobs mehr in ihrem Beruf und lavierte sich mit "Freundschaften" durchs Leben, wie das Sondergericht Berlin 1939 höhnisch bemerkt. Im NS-Staat galt Emmy Richter als unverheiratete und vorbestrafte Frau ohne sicheres Einkommen als "asozial". Das Sondergericht Berlin verurteilte sie zu 7 Monaten Gefängnis nach dem Heimtücke-Gesetz. Die Reinemachefrau ihrer großen Wohnung hatte sie angeschwärzt. Sie hätte ihr erzählt, dass sie während ihrer 6 Wochen KZ-Haft (etwa um 1937/38) von SA-Männern geschlagen und malträtiert worden sei. Sie hätten ihr die Zähne ausgeschlagen. Während des Ermittlungsverfahrens ab Januar 1939 war Emmy Richter Schutzhaftgefangene im Frauen-KZ Lichtenburg. Nach Verbüßung ihrer Gefängnisstrafe wurde sie am 9.2.1940 in das KZ Ravensbrück rücküberstellt.

Die Liebesbeziehung zu Wilhelmine Cruys begann wahrscheinlich schon in den 1920er Jahren. Sie war geprägt von der Eifersucht Emmy Richters auf Käthe von Bassenheim, für die sich Wilhelmine Cruys 1933 entschieden hatte.

Strafverfolgung wegen Kuppelei und wegen Vermittlung von Abtreibungen

Die Cruys und die Bassenheim bestreiten ihren Lebensunterhalt weiterhin durch Zimmervermietung, nun aber stundenweise an Bekannte, die manchmal als Prostituierte arbeiten und zahlende Freier suchen. Dabei übersehen sie den V-Mann, der das bunte Leben in der Motzstraße überwacht und sie anzeigt. Außerdem vermitteln sie gemeinsam mit Julia Schneeberg, geb. Brenner, geb. 12.8.1895, und ihrem Freund Rudolf Buchholz, geb. 07.02.1892, Abtreibungen für Frauen in Not, die sich an sie wenden, weil außereheliche Kinder von verheirateten Männern gesellschaftlich verpönt sind. Die Kürettage wird von den Krankenschwestern Anna Otto, geb. 19.04.1870, und Klara Lange, geb. 13.09.1884, sowie von dem Chirurgen Dr. med. Stabel, geb. 19.02.1867, Selbstmord 06.12.1943, durchgeführt, also von Fachleuten, so dass den Frauen gesundheitlich eine geringere Gefahr droht. Die Frauen bzw. die Kindesväter zahlen dafür eine Gebühr von 200 bis 250 RM, manchmal auch viel weniger, wenn sie nichts haben. Allerdings war die Gefahr, entdeckt zu werden, erheblich. Der Amtsarzt war verpflichtet, jede "Fehlgeburt" zu melden. Das kam einer Strafanzeige gleich.

"Kuppelei" und "gewerbsmäßige Beihilfe zur Abtreibung" wurde in der NS-Zeit hart geahndet. Wilhelmine Cruys und Käthe von Bassenheim hatten 1938/39 zu beiden Delikten Strafverfahren, die parallel verliefen. Käthe von Bassenheim war als vorbestrafte Jüdin die Hauptverdächtige. Sie wurde am 9. Dezember 1939 vom Landgericht Berlin zu einer Gesamtstrafe von 3 Jahren 2 Monaten Zuchthaus und drei Jahren Ehrverlust verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte in Absprache mit dem medizinischen Gutachter Dr. Woker sogar Sicherungsverwahrung beantragt. Wilhelmine Cruys hingegen kam als unvorbelastete "Arierin" mit 6 Monaten Gefängnis davon, die durch Polizeihaft ab 15.11.1938 und Untersuchungshaft vom 06.01.1939 bis 06.10.1939 mehr als verbüßt waren. Das Urteil wurde nicht in das Strafregister eingetragen, so dass es ihrer späteren Karriere als Unternehmerin nicht im Wege stand.

Gewerbekarte der Industrie-und Handelskammer Berlin

Gewerbekarte der Industrie-und Handelskammer Berlin, ausgestellt am 03.04.1941 Quelle: LABO Berlin, BEG-Akte Reg.-Nr. 5016

Aussagen zur lesbischen Lebensweise und zu den Eifersuchtsszenen von Käthe von Bassenheim, Wilhelmine Cruys und Emmy Richter sind bisher nur aus den Strafakten 1938/39 bekannt. Die Cruys, als einzig Überlebende, hatte zwar später auch viele Freundinnen, wie die Frauen in Ravensbrück 1942/43, die ihr das Leben retteten und für die sie nach 1945 bürgte. "Lesbisch" aber war in den Anerkennungsverfahren von OdF und PrV sowie im Entschädigungsverfahren kein Thema, sondern ein zu vermeidendes Stigma.

Weibliche Homosexualität war bekanntlich im Unterschied zur hart bestraften männlichen Homosexualität im Deutschen Reich strafrechtlich nicht relevant. Das galt auch für die NS-Zeit und die Nachkriegszeit. Lediglich die Paragrafen wegen Kindesmissbrauchs, Unzucht mit Abhängigen, die Verbreitung unzüchtiger Schriften galten auch für Frauen. Lesbische Liebe unter volljährigen Frauen hingegen war nicht strafbar. Dennoch ist in den Strafverfahren zu anderen Delikten von Frauen die Verachtung und der Wunsch nach Bestrafung spürbar. Kripo und Gestapo zwangen die verdächtigen Frauen zu Geständnissen, sie erhoben alle Fakten lesbischer Verhältnisse und hielten sie in den Vermerken und Merkblättern für die Homosexuellen-Kartei der Reichszentrale zur Bekämpfung von Homosexualität und Abtreibung fest. Anklageschriften gingen in abgeschwächter Form darauf ein, manchmal auch die Justizurteile in der bewertenden Biografie. "Lesbisch" konnte demzufolge durchaus zur Strafverschärfung führen oder aber zu "Vorbeugungsmaßnahmen" gegen vermeintlich "Asoziale" im KZ. Das ist auch aus anderen, bereits publizierten Biografien von lesbischen Frauen bekannt.

Aus den Strafakten gegen Käthe von Bassenheim und Wilhelmine Cruys

KI M II/3 (Dezernat Kuppelei)
Berlin, den 12. 2. 39
Vermerk
Im Verlauf der Ermittlungen wegen der Herstellung von unzüchtigen Briefen wurde u.a. ermittelt, daß die Bassenheim und die Cruys 2 schwule Freundinnen sind. Weiterhin, daß die Cruys außerdem noch eine andere schwule Freundin, eine gewisse Emmy Richter, 18.11.95 in Hamburg, wohnh. Berlin, Motzstr. 59 hatte. Diese hat ständig im Haushalt der Cruys und Bassenheim verkehrt und weiß über alles genau Bescheid. Zwischen der Bassenheim und der genannten Richter ist es kurz vor ihrer Festnahme zu wüsten Auseinandersetzungen gekommen, weil die Richter auf die Bassenheim eifersüchtig wurde. Die genannte Richter befindet sich seit Jan. d. J. im Konz.Lager Lichtenberg bei Weimar."
Kriminaloberassistent Schiller

Gestapa II S2 (Dezernat Abtreibung)
Berlin, den 4.1.39
Aus dem Schlussbericht
Zu Wilhelmine Cruys
"Mit der Bassenheim unterhielt sie ein lesbisch-sadistisches Liebesverhältnis. In ihrer Wirtschaftsführung arbeiteten sie Hand in Hand, d.h. durch Ausführung ihrer Straftaten bestritten sie die Kosten des Lebensunterhaltes. (...) Nur eine empfindliche Strafe verspricht bei der Cruys noch Erfolg. Sie und auch die Bassenheim sind eine Gefahr für die Allgemeinheit."
Kriminaloberassistent Kleymann

Gestapa II S2 (Dezernat Abtreibung)
Berlin, den 29. November 1938
Verhandelt!
Aus dem Polizei-Frauengefängnis vorgeführt, erscheint die Zimmervermieterin Wilhelmine C r u y s, Personalien bekannt, und gibt, zur Wahrheit ermahnt, folgendes an:
"Auf Befragen muss ich zugeben, dass ich mit der Gräfin v. B a s s e n h e i m ein lesbisches Freundschaftsverhältnis unterhalten habe. Dieses Verhältnis nahm seinen Anfang im Jahre 1933 und endete im Jahre 1937, weil Frau Bassenheim, die an Rückenmarkschwindsucht erkrankt ist, nicht mehr mitmachen konnte. Eine Unterbrechnung in diesem Verhältnis fand von März 1935 bis Juli 1936 statt. Während dieser Zeit befand sich Fr. v. B. in der Heil- und Pflegeanstalt Wittenau. Hier machte sie eine Morphiumentziehungskur durch. Unser Verhältnis war derart, dass wir gelegentlich zusammenschliefen. Wir führten gegenseitig unsere Finger in die Scheide des Partners ein und onanierten. Mit dem Munde oder mit sonstigen Gegenständen haben wir den Verkehr nicht ausgeübt.
Mir ist nicht bekannt, dass Frau v. Bassenheim sich Männern gegen Entgelt hingegeben hat. Wir waren gegenseitig aufeinander eifersüchtig und hätten deshalb dies nicht zugelassen."
Selbst gelesen genehmigt und unterschrieben:
Wilhelmine Cruys
Geschlossen Kriminaloberassistent Kleymann

Frauen-Konzentrationslager Prettin, den 1. März 1939
Lichtenburg
Politische Abteilung
Verhandelt
"Vorgeführt erscheint die Schutzhaftgefangene Emmy Richter, geb. am 18.11.95 in Hamburg und sagt mit dem Gegenstand ihrer Vernehmung bekanntgemacht, zur Wahrheit ermahnt und über den §§ 257 RStGB hinreichend aufgeklärt folgendes:
(...)
"Mir persönlich ist auch nicht bekannt, dass die v. B. mit meiner Freundin Wilhelmine Cruys ein Liebesverhältnis unterhalten hat. Ich habe im Jahre 1935 oder 1936 wohl von der Schwester der Cruys, einer gewissen Gertrud Gotthelf geb Cruys, Berlin-Wilmersdorf, Brandenburgische Straße Nr. 77, als Mieterin wohnhaft, in Erfahrung gebracht, dass ihre Schwester Wilhelmine Cruys mit der v. Bassenheim ein Liebesverhältnis unterhalten soll. Ich selber habe hiervon nichts bemerkt. Ich habe (....) mit der Wilhelmine Cruys nur freundschaftlich verkehrt. Mir ist auch nicht bekannt, dass jemals fremde Männer und Frauen in der Wohnung der Cruys bzw der v. B. verkehrt und unzüchtige Handlungen vorgenommen haben. Weitere Angaben kann ich nicht machen. Meine gemachten Angaben entsprechen in allen Punkten der Wahrheit. Ich bin bereit die Angaben jederzeit vor einem Gericht zu beeiden."
v.g.u. Emmy Richter geschlossen: Bamberg, Kriminalsekretär

Kosmetik-Cruys

Gründung der Kosmetik-Firma durch Wilhemine Cruys

Am 06.10.1939 wird Wilhelmine Cruys noch vor der Hauptverhandlung aus der Untersuchungshaft im Frauenhaus Moabit entlassen. Sie kann in ihre Wohnung in der Motzstraße 5 zurück. Dafür hatte ihre Schwester Rosa Gotthelf gesorgt. Aufgrund des Arbeitskräftemangels nach Beginn des Krieges findet sie sofort Arbeit in der Parfümerie-Fabrik Richard von Zinnow, Charlottenburg, Wilmersdorfer Straße 85. Dank ihrer Intelligenz und ihrer Erfahrungen mit Kosmetik in der Jugendzeit lernt sie schnell, belegt Abendkurse, steigt im Betrieb auf und gründet in ihrer Wohnung ihre eigene kleine Kosmetik-Firma. Sie verdient durch den Vertrieb und die Herstellung kosmetischer Artikel 240 RM im Monat. Das geht aus einem Schreiben vom 18.11.1940 an die Gerichtskasse hervor, die die Bezahlung der Gerichtskosten anmahnt. Am 3.April 1941 stellt ihr die IHK eine Gewerbekarte aus.

Politischer Häftling in Ravensbrück

Im Mai 1942 wird Wilhelmine Cruys wegen "Judenbegünstigung" erneut in Schutzhaft genommen und am 8. August 1942 als politischer Häftling in das Frauen-KZ Ravensbrück überführt. Sie hat die Häftlings-Nr. 12898 und trägt den roten Winkel. Sie hatte den Chemiker Fritz Nelken (geb. 27.10.1883, ermordet am 22.1942 in Auschwitz) und andere Juden illegal in ihrer Kosmetik-Firma beschäftigt. Das bezeugte nach dem Krieg Julia Schneeberg. Auch sie habe als Jüdin bei der Cruys ihren Lebensunterhalt verdient, bevor sie Zwangsarbeit leistete, 1944 in die Illegalität ging und dann aufgrund des Verrats durch eine Nachbarin nach Theresienstadt deportiert wurde.

In Ravensbrück musste Wilhelmine Steine tragen, die Schuhe der ermordeten Kinder sortieren, Pelze zusammennähen und stricken. Zuletzt war sie im Kommando Schneiderei der Dachauer Betriebe tätig. Sie gehörte mit 55 Jahren zu den ältesten Häftlingen und wurde durch Arbeit, Hunger, Appellstehen und Kälte schwer krank, hatte Typhus und schwere Arthritis, war völlig abgemagert. Trotzdem hatten die Bittgesuche ihrer Tochter Käthe auf Entlassung keinen Erfolg. Aber die Frauen, ihre Freundinnen innerhalb und außerhalb des Lagers, denen sie so viel Gutes getan hatte, helfen ihr mit Bestechungsgeld und illegal besorgtem Tabak. Ende September wird sie auf Veranlassung von Polizeirat Rotter aus dem KZ entlassen, "mit der Auflassung, fünf Jahre in den Strafblock zu kommen, 100 Hiebe mit der Gummipeitsche zu erhalten, falls sie rückfällig würde", bezeugte Julia Schneeberg.

Urlaubsgesuch

Urlaubsgesuch Käthe von Bassenheim 7. Dezember 1943 im Frauenzuchthaus Cottbus

Die Ermordung der Freundinnen

Wilhelmine Cruys war halbtot, als sie zurückkam, die Wohnung mit der Fabrik leer. Die Gestapo hatte alles mitgenommen und zerstört, die Parfumöle, die Alkoholflaschen, die Flakons, die Tuben mit der teuren Creme und sogar die Etiketten. Ihre geliebten Freundinnen lebten nicht mehr. Käthe von Bassenheim, die während ihrer Haft verzweifelt versucht hatte, durch Vaterschaftsaberkennung und Urlaubsgesuche aus dem Judentum herauszukommen, wurde nach Verbüßung ihrer Zuchthausstrafe deportiert und am 18.08.1942 im Wald bei Riga erschossen. Emmy Richter blieb im KZ. Im Mai 1942 wurde sie von Ravensbrück an die Tötungsanstalt Bernburg "abgegeben" und dort am 02.06.1942 ermordet. Auch Ernst Rothschild war nicht mehr da. Nach einem Versuch unterzutauchen, wurde er in der Mommsenstraße 55 festgenommen, mit dem 45. Transport vom 29.10.1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Inhaftierung von Wilhelmine Cruys im Polizeigefängnis Große Hamburger Straße, 1945

Im Februar 1945 wird Wilhelmine Cruys erneut verhaftet und von der Gestapo in das Polizeigefängnis Große Hamburger Straße 26 gebracht. Der Grund soll der illegale Besitz von ein paar Zigaretten gewesen sein, aber sie hatte sich auch an der Verteilung von Klebezetteln gegen Hitler in Telefonzellen beteiligt und zum Abhören ausländischer Sender aufgerufen. Sie saß schon in der Transportzelle nach Ravensbrück, das wäre ihr Tod gewesen. Da brachte der dort seit 1943 arbeitende jüdische Arzt Dr. med. Martin Sternberg, geb. 21.08.1899, den Mut auf, Wilhelmine Cruys für transportunfähig zu schreiben. Wie durch ein Wunder überleben die Insassen der Großen Hamburger Straße 26 die letzten Tage des Nazi-Regimes. Gestapo und SS waren stets schussbereit, wie wir auch aus den Lebensberichten der Tänzerinnen Margot Liu, geb. Holzmann, und Marta Halusa wissen.

Nach der Befreiung

Nach der Befreiung vom Faschismus kehren die Lebensgeister sofort zurück. Die 58 jährige Wilhelmine Cruys baut ihre Kosmetik-Firma in der Wohnung Motzstraße 5 wieder auf und kann mit ihren Parfums und Cremes bald Gewinne erwirtschaften. Manche Frauen aus Ravensbrück, wie Maria Herbst, spätere René, geb. 4.8.1905, und Gertrud Putter, spätere Jacoby, arbeiten bei ihr eine Zeit und können ihr Leben neu aufbauen. Vor allem aber kann die Cruys nun politisch aktiv werden. Sie spricht im Rundfunk und schreibt in den ersten zugelassenen Zeitungen mit Name und Adresse über ihre schlimmen Erlebnisse im Nazireich und über Antifaschisten. Bezeugt von Dr. med. Martin Sternberg ist ein Artikel vom 06.07.1945 im Berliner Abend, den die Cruys über ihn und seine mutige Haltung in der Hamburger Straße 26 geschrieben hatte. Sie ist empört darüber, dass Sternberg sich vor einem Ehrengericht dafür verantworten soll, warum er als Jude in einer solchen Position überlebt hat.

Wilhelmine Cruys votiert nach dem Krieg links. Sie arbeitet mit dem Büro Grüber zusammen, wird vom Hauptausschuss OdF am 1. Juli 1946 als Opfer des Faschismus mit dem roten Ausweis anerkannt, ist bis 1951 Mitglied der SED und arbeitet in den 50er Jahren aktiv im Sekretariat Schöneberg der VVN Westberlin.

OdF-Ausweis

Wilhelmine Cruys: Roter OdF-Ausweis (Deckblatt), ausgestellt am 01.07.1946 vom Hauptausschuss "Opfer des Faschismus" beim Magistrat der Stadt Berlin. Quelle: LABO Berlin, BEG-Akte Reg.-Nr.5016

Der Kampf um Entschädigung

Nach der Teilung der Stadt in Ost und West 1948/49 und dem Beginn des Kalten Krieges muss sie als Mitglied der verbotenen VVN Westberlin um ihre Anerkennung als PrV (Politisch-rassisch-religiös Verfolgte) kämpfen. Da sie Anfang der 50er Jahre ihre Firma wegen verfolgungsbedingter Krankheit und aus Altersgründen schließen muss, braucht sie die PrV-Rente, die in Westberlin die OdF-Rente ablöste, und die finanziellen Leistungen nach Entschädigungsrecht.

Nach ihrer Aberkennung als PrV aus politischen Gründen 1954 prozessiert Wilhelmine Cruys gegen den Senat. Als Grund ihres Anspruchs gibt sie rassische Gründe an. Sie habe seit 1916 mit dem jüdischen Rechtsanwalt und Notar Ernst Rothschild in Lebenspartnerschaft zusammengelebt. Eine Ehe sei zunächst aus religiösen Gründen nicht möglich und nach den Nürnberger Gesetzen 1935 gesetzlich verboten gewesen. Viele Zeuginnen und Zeugen unterstützen sie dabei, auch wenn sie vielleicht wissen, dass Wilhelmine Cruys auch Frauen liebte.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin, Kammer III, vom 24.10.1955 unter dem Vorsitz von Dr. Chappuis spricht sich für Wilhelmine Cruys als Hinterbliebene von Ernst Rothschild aus, und sie wird am 12.01.1956 als rassisch Verfolgte anerkannt. Eine Anerkennung als politisch Verfolgte erreicht Wilhelmine Cruys nicht, obwohl alle Dokumente dafür sprechen. Aber vielleicht hatte sie ihre Häftlingskleidung mit dem Roten Winkel aus Ravensbrück bei den langen Verhandlungen nicht dabei.

Wilhelmine Cruys stirbt am 29. April 1961 in Berlin-Schöneberg.

Text: Carola Gerlach

Quellen

LAB A Rep. 358-02 Nr 119050 bis 119051, 1 Kup Ms 15/39, ./. Bassenheim u.a. wegen Kuppelei
LAB A Rep. 358-02, Nr. 63459 bis 63463 und Nr. 63447 bis 63448, 92 KLs 23/39 ./. Stabel u.a. wegen Abtreibung
LAB A Rep. 370, Nr. 18554, Haftakte Tegel von Stabel
LAB A Rep. 358-02, Nr. 138556, 70 AR 742/43 Selbstmord von Stabel am 06.12.1943
LAB A Rep. 358-02, Nr. 44046-49 86 KLs 10/39 ./. Anna Otto u.a. wegen gew. Abtreibung
LAB A Rep. 358-02, Nr. 35660 83 Ks 5/39 ./. Klara Lange wegen Abtreibung

a) Wilhelmine Cruys
LAB C Rep. 118-01, Nr. 38346, Wilhelmine Cruys, OdF-Akte, Foto 1945
Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (LABO) Berlin, BEG-Akte Reg.-Nr. 5016, Wilhelmine Cruys
LAB C Rep. 906-02, Nr. 4 VVN Westberlin, Delegiertenkonferenz 8.6.1958
LAB C Rep. 118-01, Nr. 31498, Dr. med. Martin Sternberg, OdF
LAB A Rep. 358-02, Nr. 56443, 90a Hs 387/41, Aufhebung Entmündigung Ernst Rothschild
LAB A Rep. 380, Nr. 781, Psychiatrisches Gutachten Ernst Rothschild, 1932
LABO Berlin, BEG-Akte Reg.-Nr. 120263, Ernst Rothschild, Antrag Wilhelmine Cruys

b) Käthe von Bassenheim
LAB A Rep. 358-02, Nr.57079, 90a Hs 405/40 Käthe von Bassenheim Anfechtung der Ehelichkeit
LAB A Rep. 342, Nr. 6631 ./. Bassenheim Aufhebung Entmündigung, 1931, Antragsteller Vater Paul Hahn
LAB P Rep. 804, Nr. 577 Standesamt Berlin III Geburtsurkunde Käthe Bassenheim, geb. Hahn
LAB P Rep. 163, Nr. 3 Sterbeurkunde des Vaters Paul Hahn, vom 17. November 1938

c) Emmy Richter
LAB A Rep. 366 Karteien, Frauen A-Z 1939, Karton, 54, Haftkarte Moabit Frauenhaus, Emmy Richter
Bundesarchiv: R 3001/107979 3 Sond.KMs. 45/39, Sondergericht Berlin, Anklage und Urteil gegen Emmy Richter
Archiv Ravensbrück, Monika Schnell Auskunft zu Emmy Richter vom 6.7.2016, Schnell@ravensbrueck.de

d) Julia Schneeberg
LAB B Rep. 058, Nr. 388, 1 Js 9/65 Stapoleitstelle Berlin Zeugenheft Julia Schneeberg
LABO Berlin, BEG-Akte Reg.-Nr. 21920, Julia Schneeberg

Gedenkbücher
Simone Ladwig-Winters: Anwalt ohne Recht. Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte in Berlin nach 1933. bebra 1998
Alfred Gottwaldt, Diana Schulle: Die "Judendeportationen" aus dem Deutschen Reich 1941-1945. Marix Verlag, Wiesbaden 2005
Adressbuch Berlin, Telefonbücher Berlin