Lucienne M. und Marie P., französische Zwangsarbeiterinnen

„Trotz Verbots der AEG ... haben wir nicht von einander gelassen, weil wir uns lieben“
(Lucienne M. im Polizeiverhör Juli 1943)

Lucienne M. wird 1921 in Royan geboren, einem Seebad an der Mündung der Gironde in den Atlantik. Sie entwickelt sich als selbstbewusste, burschikos wirkende junge Frau und entdeckt früh ihr Desinteresse an Männern. Das fällt auch ihrer Mutter auf: „Durch mein Aussehen und mein überreiztes Benehmen schöpfte meine Mutter Verdacht und machte mir Vorwürfe“. Als Lucienne 16 Jahre alt ist, hat sie in Paris ein gleichgeschlechtliches Verhältnis zu einer 30jährigen Frau. Ihre Mutter darf davon nichts wissen. Zum Schein lässt Lucienne sich mit einem ihr aus Kindertagen bekannten jungen Mann ein. Als sie 1939 schwanger wird, heiratet sie ihn, obwohl sie ihn für egoistisch hält und keine Liebe empfindet. 1940 wird ein Junge geboren. Noch im gleichen Jahre muss der Mann an die Front, gerät jedoch kurz darauf in deutsche Kriegsgefangenschaft, 1943 in einem Kriegsgefangenenlager in Dresden.

AEG Apparatefabriken Berlin-Treptow um 1937

AEG Apparatefabriken Berlin-Treptow um 1937. Foto: Landesarchiv Berlin LAB F Rep. 290 (03) Nr. 0290351

Lucienne gibt ihr Kind in Paris zu Pflegeeltern und zieht als französische Arbeiterin nach Berlin. Hier arbeitet sie in den AEG Apparatefabriken in Berlin-Treptow, Hoffmannstraße 15-24. Im August 1942 wird sie im Ausländerwohnheim „Torkrug“ im Hochbahnhof Schlesisches Tor untergebracht. Das ehemalige 421 Quadratmeter große Restaurant war, wie viele Gaststätten und Festsäle in anderen Berliner Bezirken, von den Apparatefabriken angemietet und als „Nutzfläche für ausländische Gefolgschaftsmitglieder“ in ein Arbeitslager umgebaut worden.

Wenige Tage nach ihrer Ankunft im „Torkrug“ lernt sie die 24jährige Pariserin Marie P. kennen. Maries lesbische Neigungen sind im Lager bekannt, und so findet Lucienne bei ihr die Zuneigung und Liebe, die sie schon immer gesucht hat. Marie ist ein fraulich-zarter Typ, ganz anders als Lucienne, auch sie hat sich für den freiwilligen Arbeitsdienst in Deutschland anwerben lassen. Die Zweisamkeiten zwischen den beiden jungen Frauen bleiben den anderen Frauen im Lager nicht verborgen. Es wird gemunkelt, Marie und Lucienne hätten auf den Toiletten des Heims „unzüchtige Handlungen“ begangen. Die Gerüchte dringen bis zur Leiterin des Lagers, Margarethe Klein, geb. am 22.12.1908 in Merzig, die Marie P. daraufhin verwarnt. Marie gilt als fleißige und tüchtige Arbeiterin, ist als hilfsbereite Kollegin beliebt. Die im Februar1943 beginnenden regelmäßigen Intimitäten der beiden Freundinnen finden in Hotels außerhalb des Lagers und des Firmengeländes der AEG statt.

Im März 1943 werden Lucienne und Marie von der Lagerleiterin bei einem Kontrollgang im großen Schlafsaal des Ausländerwohnheims gemeinsam im Bett von Marie erwischt. Beide wärmen sich gegenseitig, gleichgeschlechtliche Handlungen beobachtet die Lagerleiterin Klein nicht. Doch Marie P. war bereits verwarnt worden, und so wird ihre Verlegung in die AEG-Ausländerlager in Berlin-Johannisthal veranlasst. Die beiden direkt nebeneinander liegenden Barackenlager am Groß-Berliner-Damm, Ecke Pilotenstraße bestanden bis zum Ende des Krieges.

AEG Ausländerlager am Groß-Berliner-Damm

AEG Ausländerlager am Groß-Berliner-Damm, Johannisthal. Vermessungsamt Berlin-Treptow, 20.03.1942 Quelle: Landesarchiv Berlin A Rep. 227-02 Nr. 53

Auch Lucienne M. muss den „Torkrug“ verlassen, ihr wird ein anderer Arbeitsplatz und eine neue Unterkunft im Lager Berlin-Schöneweide zugewiesen. Anträge der beiden Freundinnen, die Trennung aufzuheben, werden abgelehnt. Lucienne macht die Trennung besonders zu schaffen, sie erkrankt. Daraufhin zieht Marie zu ihrer Freundin ins Lager Schöneweide. Anfang Juli 1943 erfährt Heimleiterin Klein davon und informiert den ebenso berüchtigten wie gefürchteten Werkschutzleiter bei der AEG, August Bogdahn, geb. 28.08.1902 in Grünwald/Ostpreußen (heute Polen).

Werkschutzleiter Bogdahn, seit 1936 SS-Hauptsturmführer, hat sich als Abwehrbeauftragter der Gestapo im Bereich der AEG und deren Zwangsarbeitslager vor allem mit der Aufspürung und Auslieferung von politischen Feinden des Regimes einen Namen gemacht. In dieser Stellung denunziert und verleumdet er zahlreiche vermeintliche politische Regimegegner innerhalb der AEG sowie der zugehörigen Arbeitslager und veranlasst ihre Auslieferung an die Gestapo. Aber auch Misshandlungen von Arbeitskollegen und -kolleginnen durch Werkschutzangehörige hat Bogdahn zu verantworten. Bei geringer Arbeitsleistung teilte Bogdahn die Schläge auch mal selbst aus, wie Zeugen später zu Protokoll geben. Bogdahns skrupelloses Vorgehen findet bei der Gestapo Gefallen, wenige Monate später wird ihm die Leitung aller 24 Ausländerlager übertragen.

Im Falle Marie P. fordert der Abwehrbeauftragte „ein abschreckendes Beispiel durch Verhängung strafrechtlicher Maßnahmen“. In seiner Anzeige vom 6. Juli 1943 wegen Verstoßes gegen § 183 RStGB (öffentliches Ärgernis durch unzüchtige Handlungen) verfälscht Bogdahn die Beobachtungen der Lagerleiterin Klein, denunziert Marie als Anstifterin für die unzüchtigen Handlungen der beiden Frauen, die das „geordnete Lagerleben beeinträchtigen“ und von „haltlosen Naturen“ innerhalb des Lagers nachgeahmt werden könnten. Wenige Tage später wird Margarete Klein jedoch ihre von Bogdahn verfälschten Aussagen widerrufen: „Die in der von der AEG erstatteten Anzeige enthaltenen Angaben, ich hätte die beiden Beschuldigten bei der Ausübung der Unzuchtshandlungen getroffen, entsprechen nicht den Tatsachen. Bemerken möchte ich, dass die P. als tüchtige und sehr fleißige Arbeiterin von ihrem Meister bei der AEG geschätzt wird."

Kriminalsekretär Fritz Miekeley vom Homosexuellendezernat, Kriminalinspektion Mitte II/2, befragt Lucienne und Marie am 22. Juli 1943, Lagerleiterin Margarethe Klein dolmetscht. Die beiden Frauen gestehen ihre Liebesbeziehung, widersprechen jedoch den Anschuldigungen der Anzeige Bogdahns. Margarete Kleins Widerruf entkräftet die falschen Beweise der Anzeige. Miekeley belässt es bei eindringlichen Verwarnungen der beiden Frauen. Er legt Karteikarten und Merkblätter über den Vorgang für die Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung an.

Bogdahn wird über das Ermittlungsergebnis und die Entscheidung der Polizeibehörde informiert. Marie und Lucienne dürfen im Ausländerlager der AEG am Groß-Berliner-Damm, Berlin-Johannisthal, gemeinsam wohnen bleiben. Trennungsmaßnahmen werden nicht eingeleitet. Am 19. August 1943 wird das Verfahren gegen Marie P. von der Generalstaatsanwaltschaft Berlin eingestellt.

Nach Kriegsende soll August Bogdahn wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit – begangen durch politische Denunziation“ während seiner leitenden Position in den AEG Apparatefabriken Treptow – angeklagt werden. Am 05. November 1945 lädt man ihn auf Anordnung der Alliierten ins Polizeipräsidium Berlin vor. Doch die Vorladung wird nicht zugestellt, Bogdahn ist nicht zu Hause und seine Frau Else verweigert die Annahme. Kurze Zeit später wird August Bogdahn durch Ausschreibung in der sowjetischen Zone festgenommen und in Haft gesetzt. Am 31.08.1948 gelingt ihm bei einer Überführung von Potsdam nach Berlin die Flucht. Die anschließende Fahndung bleibt ergebnislos.

Text: Bernd Grünheid

Quellen

Strafakte Marie P.
- Landesarchiv Berlin A Rep. 358-02 Nr. 113129, AZ Unz Js 165/43

August Bogdahn
- Landesarchiv Berlin C Rep. 375-01-13 Nr. 2894/A14 (Personal-Akte Bogdahn 1945 - 1949)
- Bundesarchiv R/9361/III/17563 Seite 1636 (NSDAP Parteiliche Erhebung 1939)

Ausländerlager der AEG Apparatefabriken Treptow (Mietverträge)
- Landesarchiv Berlin A Rep. 227-02 Nr. 53