Agnes Spindler, Straßenhändlerin

Agnes Spindler, geboren am 17.06.1904 in Berlin-Friedrichshain, wächst mit drei Brüdern und vier Schwestern auf. Agnes mag weder mit Puppen spielen noch teilt sie die Begeisterung für niedliche Kinderkleidchen. Agnes trägt am liebsten die Sachen ihres Bruders.

Agnes Spindler (Mitte)

Zur Einschüchterung wird Agnes Spindler vom Homosexuellendezernat der Gestapo wie eine Kriminelle behandelt und erkennungsdienstlich fotografiert. Foto: Polizeiakte Agnes Spindler, Landesarchiv Berlin

Die Vorliebe für Männerkleidung ändert sich auch nicht im jugendlichen Alter, als Agnes ihre Zuneigung für das weibliche Geschlecht entdeckt. Ihr erstes festes Verhältnis mit einer jungen Frau hat sie im Alter von 18 Jahren. Die Liebe der beiden Frauen findet ein jähes Ende, als die Freundin überraschend stirbt.

1924 lernt Agnes die wegen ihrer Frauenliebe von ihrem Ehemann geschiedene Margarete Witzig kennen und verliebt sich erneut. Margarete zieht zu Agnes in deren Wohnung Ackerstraße 153, Berlin-Mitte. 1926 wird Agnes polizeilich als Lesbierin notiert, nähere Unterlagen dazu gibt es nicht. Acht Jahre leben die beiden Frauen zusammen. Dann wieder ein Schicksalsschlag – 1932 stirbt auch Margarete Witzig. Eine feste Beziehung gibt es danach nicht mehr für Agnes Spindler, es bleibt bei gelegentlichen Kontakten mit anderen Frauen. Veranstaltungen lesbischer Damenklubs oder Tanzveranstaltungen einschlägiger Lokale besucht sie nie.

1935 wohnt Agnes allein in Untermiete in der Palisadenstraße 3, Horst-Wessel-Stadt (heute Berlin-Friedrichshain), bei Kuhle. Ihren Lebensunterhalt verdient sie sich als Straßenhändlerin für Obst und Gemüse, selbstverständlich in ihrer gewohnten Männerkleidung. „Kleener“ oder „Dicker“ wird sie von ihrer Stammkundschaft genannt, niemand nimmt an ihrer Kleidung Anstoß. Die Herrengarderobe hält sie warm und ist zudem praktisch für den täglichen Weg auf dem Fahrrad mit Tafelwagen von ihrer Wohnung zum zugewiesenen Verkaufsplatz an der Kreuzung Ackerstraße Ecke Elsässer Straße, der heutigen Torstraße, Berlin-Mitte.

Dies ändert sich am 09.06.1939, als Agnes Spindler von einem Beamten des Polizeiamtes Berlin-Mitte in der Jerusalemer Straße vor dem Haus Nummer 6 beim Verkauf von Tafeläpfeln ertappt wird. Ihr an dieser Stelle unerlaubter Straßenverkauf war zuvor angezeigt worden. Agnes trägt an diesem Tag einen hellen Herrenanzug ohne Kopfbedeckung. Sie soll eine Genehmigung zum Tragen von Männerkleidung vorweisen, was sie nicht kann. Der Fall wird vom Polizeiamt Mitte an die Geheime Staatspolizei zur weiteren Bearbeitung übergeben.

Kriminalassistent Willi Genge, Homosexuellendezernat der Staatspolizeileitstelle (Stapo C 3), lädt Agnes Spindler am 23.08.1939 in die Dienststelle vor. Agnes erzählt freimütig von ihrer frühen Neigung zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen und ihrer Vorliebe, sich wie ein Mann zu kleiden. Seit dem Tod ihrer Freundin Margarete Witzig sei sie aber geschlechtlich gar nicht mehr aktiv. Sie verspricht dem Beamten, ihre Männerkleidung in Kürze auf Damenkleidung umzustellen, sich eine Radfahrhose für Frauen anzuschaffen. Sie bitte sich jedoch eine Übergangszeit aus, um ihre Stammkundschaft nicht zu verschrecken und möglichen wirtschaftlichen Schaden für ihren Straßenhandel abzuwenden. Kriminalassistent Genge stimmt zu und schließt den Vorgang. Er legt pflichtgemäß eine Karteikarte und Polizeiakte zum Vorfall an.

Am 30. Juli 1940 wird Agnes Spindler wieder in Männerkleidung beim Obsthandel an einem Ort erwischt, für den sie keine Handelsgenehmigung hat, diesmal Feld- Ecke Ackerstraße, Berlin-Wedding Gesundbrunnen. Oberwachtmeister Witzel vom 53. Polizeirevier der Schutzpolizei Berlin fordert einen Nachweis über die Trageberechtigung, den sie nicht beibringen kann: „Sie trug ausgesprochene Männerkleidung, sodass jedermann der Ansicht war, dass es sich um eine männliche Person handelte“. Kriminalsekretär Erlemann, Kriminalbeamter des Reviers, leitet den Vorgang direkt an das Homosexuellendezernat C 4 der Geheimen Staatspolizei weiter mit dem Vermerk: „Wenn auch andere Personen hieran kein Ärgernis genommen haben, so ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass es sich um eine Transvestitin handelt, die aus unsittlichen Motiven Männerkleidung trägt.“

Am 22. August 1940 wird Agnes Spindler in das Homosexuellendezernat der Gestapo im Polizeipräsidium Alexanderplatz vorgeladen. Hier wird sie wie eine Kriminelle behandelt und erkennungsdienstlich fotografiert. Agnes muss eine Verpflichtung auf Unterlassung des Tragens von Männerkleidung unterschreiben. Bei Missachtung der Auflagen droht ihr Kriminalassistent Paul Ziebell mit Maßnahmen der Gestapo. Die Polizeireviere 5, 17 und 89 werden beauftragt, die Straßenhändlerin ab sofort zu beobachten und die Einhaltung der polizeilichen Auflagen zu überwachen.

Verpflichtungserklärung

Verpflichtungserklärung vom 22.08.1940. Quelle: Polizeiakte Spindler, Landesarchiv Berlin

Am 3. Oktober 1940 schließt Paul Ziebell den Ermittlungsvorgang für das Homosexuellendezernat ab. Rechtlich konnte ihr keine strafbare Handlung nachgewiesen werden. Die bereits angelegte Karteikarte über die „geständige Lesbierin und Transvestitin“ Agnes Spindler wird von ihm berichtigt. Weitere Vermerke in der Homosexuellenkartei des Gestapodezernats gibt es in den Folgejahren nicht.

 

Text: Bernd Grünheid

 

 

Quellen

Landesarchiv Berlin Ar. Br. Rep. 030-02-05 Nr. 855, Polizeiakte Agnes Spindler